Syrien: aus den Schlagzeilen, aus dem Sinn?

Neun Jahre dauert nun schon der Krieg in Syrien. Und auch wenn das Thema kaum mehr auf den Titelseiten erscheint, das Leid nimmt kein Ende. CARE-Botschafter und Syrien-Kenner Mahmoud Shabeeb diskutierte das Thema im Rahmen von „MY FUTURE – WHO CARES?“ mit mehreren Schulklassen und ermutigt hinzuschauen, auch wenn es weh tut.


Was ist deine Analyse der aktuellen Situation in Syrien? Medial ist das Thema etwas aus den Schlagzeilen gerutscht …

Mahmoud Shabeeb: In Syrien herrscht seit neun Jahren Krieg. Auch wenn möglicherweise einige Leute glauben, dass sich der Konflikt beruhigt und sich die Lage stabilisiert hat, das Leid ist in weiten Teilen des Landes leider immer noch dasselbe. Viele Flüchtlinge trauen sich nicht nach Hause, aus Angst vor Entführungen, wegen fehlender Infrastruktur und zerstörten Bildungseinrichtungen. Sechs Millionen Syrer sind Vertriebene innerhalb des eigenen Landes. Es gibt einfach immer noch zu viele Konflikte.


Wie reagiert die syrische Bevölkerung auf abgeschobene Flüchtlinge? Wir haben vom Dilemma gehört, dass Muslimen ihre Integrationsleistungen zum Verhängnis werden können, wenn sie in ihre Heimat abgeschoben werden. Oder beispielsweise auch, wenn ein Muslim hier in einer katholischen Einrichtung Unterschlupf gefunden hat. Wie nimmst du das wahr? Gibt es Ressentiments gegenüber jenen, denen die Flucht gelang und die nun zurückkehren müssen?

Eine interessante Frage. Das kann wahrscheinlich nur über individuelle Fälle beantwortet werden. Aber es verändert sich insgesamt die Demografie. Viele sind mehrfach aus ihren Häusern in andere Gebiete innerhalb Syriens vertrieben worden. Das Problem sind also nicht unbedingt Ressentiments gegenüber Heimkehrenden, sondern die vielen Fluchtbewegungen innerhalb des Landes. Heimatlose Menschen landen an Orten, die vom Krieg zerstört sind, wo Ressourcen äußerst knapp sind. Schulen sind zerstört worden oder werden als Obdach für die Vertriebenen genutzt und dann bleibt vielleicht noch eine einzige Schule für alle Kinder der Stadt plus jene, die noch dazukommen. Das erhöht natürlich den Druck und die Spannung.

Wie auch in den Nachbarländern, die Hundertausende geflüchtete Menschen aufnehmen …


Ja, über 90 % aller syrischen Flüchtlinge leben immer noch in den benachbarten Regionen. Die höchste Flüchtlingszahl weltweit gibt es in der Türkei mit über 4 Millionen geflüchteten Menschen insgesamt, davon sind fast 3,7 Millionen Syrer. Im Libanon, einem winzigen Land – etwas kleiner als Oberösterreich aber mit fünfmal so vielen Einwohnern – kommt auf fünf Libanesen ein syrischer Flüchtling. Und hier sprechen wir nur von den registrierten Flüchtlingen. Oder der Irak, ein Land mit vielen eigenen Konflikten, muss mit drei Millionen Binnenflüchtlingen und gleichzeitig mit Hunderttausenden Flüchtlingen von außen fertig werden. Das sind nur bruchstückhafte Einblicke in die Problematik einer Region, die durch die anhaltende Syrienkrise die Situation nicht mehr bewältigen kann. Ich will damit aber nicht sagen, dass es die zehn Prozent Flüchtlinge, die es in andere Länder geschafft haben, unbedingt besser haben. Einige konnten sich ein neues Leben aufbauen, ja, aber viele stecken auch an Orten ohne Ressourcen und Perspektiven fest.

Mahmoud Shabeeb im Interview mit Simone Fürnschuß im Hotel Schwärzler in Bregenz. Kamera: Markus Götsch


aus der Präsentation von Mahmoud Shabeeb

Was können Hilfsorganisationen tun?

Wir helfen über Lebensmittel und konzentrieren uns dabei vor allem auf Frauen und Mädchen. Sie stecken ihre eigenen Nöte oft hinter die der Familie. Auf ein Projekt in Jordanien gegen Kinderarbeit bin ich ganz besonders stolz. Viele Kinder arbeiten unter gefährlichen Bedingungen, gehen nicht mehr zur Schule. Sie werden ausgebeutet, sieben Tage die Woche. Wir bieten den Familien ein limitiertes Einkommen unter der Bedingung, dass sie ihr Kind zurück in die Schule schicken und das überprüfen wir auch. Mit diesem Projekt sind wir im sechsten Jahr.

Mahmoud Shabeeb über Maßnahmen, wie CARE sicher stellt, dass Kinder statt zu arbeiten, die Schule besuchen können.

Abgesehen von der strittigen Frage nach der adäquaten Anzahl aufzunehmender Geflüchteter: Was kann Europa tun?

Wir als Hilfsorganisation glauben, dass die Krise nur politisch gelöst werden kann. Die großen Nationen der EU verfügen über diese Hebelwirkung, können Druck machen, können aufhören, Waffen an die Konfliktregionen zu verkaufen. Wir können die politischen Entscheidungen nicht treffen, aber wir müssen weiterhin vorantreiben, dass sie getroffen werden.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Social Media ist natürlich ein zweischneidiges Schwert. In manchen Fällen kann es Schaden verursachen, wenn zum Beispiel Flüchtlinge Dinge auf Facebook lesen, die so nicht stimmen. Organisationen haben daraus gelernt, sie korrigieren Falschmeldungen inzwischen schnell und verbreiten so auf demselben Weg die richtige Information. Es ist sehr wichtig, uns diese Kontaktmöglichkeit zu erhalten. Wir als CARE kommunizieren die ganze Zeit mit den Flüchtenden via Facebook oder WhatsApp. Umfragen haben ergeben, dass Fernsehen und Facebook deren Hauptinformationsquelle ist.

Mahmoud Shabeeb über die Nutzung von Social Media in der Kommunikation mit Flüchtlingen.

Nochmals zurück zum Thema Relevanz bzw. Aktualität des Syrien-Krieges für die Presse: Was hat es für Auswirkungen, wenn nicht mehr über das Leid geredet wird?

Es liegt in der Natur eines lang gezogenen Konflikts, dass er keine News mehr erzeugt. In den Medien dreht sich aber alles um News. Da hat sich eine generelle Müdigkeit über die Geschichte der Syrien-Krise gelegt und die hat auch die Spender erreicht. Wir müssen Hörerschaft finden über innovative Wege, wie wir das Thema Syrienkrieg auch nach neun Jahren noch relevant und interessant halten. Das ist nicht leicht, da gibt es kein Geheimrezept.

„Denn unsere Welt besteht nicht nur aus Einhörnern, Schmetterlingen und Regenbögen, sie besteht auch aus Waffen und Bomben und Menschen, die kämpfen.“

Mahmoud Shabeeb

Müdigkeitserscheinungen oder das Wegschauen sind ja oft auch Schutzmechanismen. Was machst du, der du dich im Grunde tagtäglich dem Leid stellst, um in guter Energie zu bleiben?

Du hörst dieselben Geschichten wieder und wieder. Aber in jeder Geschichte gibt es den einen, einmaligen Angelpunkt und den musst du suchen. Und das macht unsere Arbeit so besonders. Da geht es nicht nur um Zahlen. Es geht um Ali und Achmed und Fatima und Sara. Die Geschichten der Menschen sind wichtig und besonders die Kids (Erg.: in den Schulen hier) sind sehr interessiert an diesen Geschichten. Selbst wenn sie dabei etwas traurig werden, ist das ok. Denn unsere Welt besteht nicht nur aus Einhörnern, Schmetterlingen und Regenbögen, sie besteht auch aus Waffen und Bomben und Menschen, die kämpfen.

Mahmoud Shabeeb zu Besuch bei den Caritas Jugendbotschafter*innen und in Vorarlberger Schulklassen im Dezember 2019